Die Zukunft der Meinungsfreiheit – Oder: Warum Europa ein eigenes Tripod oder GeoCities braucht

Die Informationsgesellschaft ermöglicht es “endlich” die Meinungsfreiheit unter Kontrolle zu bekommen. Der unkontrollierten Verbreitung von Informationen und damit der Ermöglichung von freier Meinungsäusserung kann endlich Einhalt geboten werden.

Das Web bietet auf seine einzigartig einfache Art jedem Menschen auf der Welt die Möglichkeit, seine Meinung zu veröffentlichen und zu verbreiten. Dafür braucht man nur einen Computer und einen Internet-Zugang. Obgleich Skeptiker sagen, dass sich derzeit nicht jeder einen Internet-Zugang leisten kann, und obgleich ich ihnen in diesem Zusammenhang auch gerne recht gebe, glaube ich nicht daran, dass dies ein Hinderungsgrund zur Meinungsverbreitung sein wird.

Ich glaube, dass in relativ kurzer Zeit ein Internet-Zugang zumindest in Europa genauso zum Haushalt gehört, wie Fernsehen und Telefon. Zu erschwinglichen Preisen. Erst vor zwei Tagen flatterte mir ein Angebot von Arcor in’s Haus: ISDN-Anschluss mit Flatrate-Internet-Zugang für ca. DM 200,– pro Monat. Selbstverständlich ist das weit von dem, was sich ein durchschnittlicher Haushalt heutzutage leisten kann, aber es ist ein Anfang, übrigens meines Wissens eines der ersten wirklichen Flatrate-Angebote.

Meinungsverbreitung passiert im Internet auf mindestens vier berühmten -und teilweise berüchtigten- Wegen:

  • E-Mail: Die bekannteste Form des Meinungs- und Informationsaustauschs. Üblicherweise erfolgt hierbei die Meinungs- und Informationsverbreitung auf 1:1, aber auch 1:n-Basis, wobei n in diesem Falle eingeschränkt ist (ich lasse hier bewusst die SPAM-Mailer aus, da ich diese nicht unter Meinungsäußerung fassen kann)
  • News: Diskussionsforen aus dem Usenet. Ehemals. Heutzutage findet der grösste Teil des Traffics in den Diskussionsforen in alt.binaries und darunter statt. Da auch in den anderen Foren das sogenannte Rauschen[1] teilweise unerträglich geworden ist, vermeiden viele Leute die Foren immer mehr.
  • Chat: Live-Diskussionen, wenn man diese überhaupt Diskussionen nennen kann. Bei meinem letzten Besuch bei goettingen.de.eu.undernet.org musste ich mich leider erstmal durch ca. 4000(!) mehr oder weniger expliziten Chat-Kanälen durchwursteln, bis ich etwas gefunden habe, was mir die lange Nacht am Rechner etwas erleichtern kann. Es waren in der Tat auch ein paar Leute bereit, über etwas mehr als nur “age/sex/location-Checks”[2] zu unterhalten.
  • Zu guter Letzt das Web selbst: Hier bietet sich jedem die einmalige Möglichkeit, seine eigene Meinung in Form einer eigenen Homepage (wie diese meine hier) zu äussern. Genau hier liegt auch der berühmte Hund begraben.

Ein Hund kam in die Küche…
Wohingegen die ersten drei Kommunikationswege sogenannte “Instant Communication” ermöglichen, damit aber auch weitaus kurzlebigere Informationen verbreiten, erlaubt es das Web, “Out-Of-Order Communication”, d.h. eine Kommunikation, die zeitlich nicht vorgeschrieben ist (Ausnahme hiervon sind natürlich archivierte News, s. DejaNews).

Das Web hat grössere Ähnlichkeiten mit einem Plakat als mit Fernsehen, Radio oder anderen Medien: Der Publizist schlägt das Plakat an die Wand, hat aber keinen Einfluss darauf, wann und vom es gelesen wird. Aus diesem Grund kann er auch keine Zielgruppe direkt ansprechen -was nur ein Problem für Marketing-Leute darstellt und daher als “irrelevant” bezeichnet werden kann 😉 – und somit einer Auflage, bestimmten Zielgruppen dieses Plakat nicht zugänglich zu machen, nur mit grossem Aufwand nachkommen kann.

… und stahl dem Koch ein Huhn
Was in der realen Welt ein Plakat, ist in der virtuellen Welt die eigene Homepage. Um Informationen und Meinungen zu verbreiten, ist es im Web notwendig, eine Informations-Site aufzubauen. Das wird auch öfters “Homepage” genannt.

Immer mehr Nutzer kommen auf die Idee, sich im Web darzustellen, sei es durch eine kleine Web-Visitenkarte, oder sei es mit einem grösseren Informationsangebot.

Hierzu nutzen Privatpersonen Homepage-Platz-Anbieter wie GeoCities, Tripod, etc. Mit Hilfe dieser Anbieter ist somit jeder auf der Welt, zumindest theoretisch, in der Lage seine Meinung zu veröffentlichen und Informationen zu verbreiten.

Diese Anbieter bekommen immer mehr den Status eines Polypols — obgleich es viele von ihnen gibt, haben sie doch die gleichen Bedingungen. Sie unterliegen größtenteils Gesetzgebung ihrer eigenen Länder und damit ergibt sich ein Monopols des gesetzlichen Rahmens.

Die Dienste dieser Anbieter wird auch immer stärker zur Verbreitung von unerwünschten Informationen genutzt. Hierbei gibt es verschiedene zu beachtende Klassen:

  • Informationen mit privatem Character: Diese Klasse der Information ist die weitaus verbreitetste aber auch die am wenigsten gefährliche. Hierbei werden meistens Informationen über die Personen (Alter, Hobbies, Haustiere, etc.) veröffentlicht.
  • Informationen mit politischem Charakter: Diese Klasse ist mit einer der gefährlichsten. Dabei handelt es sich um politische Informationen, die ungefiltert an die Öffentlichkeit gelangen können.
  • Informationen mit uneingeschränkt illegalem Charakter: Hierunter fallen Informationen, die gemäss internationalem Recht als illegal einzustufen sind, wie z.B. Drogenangebote, Illegale Pornographie, etc.
  • Informationen mit eingeschränkt illegalem Charakter:Hierbei handelt es sich um Informationen, die in verschiedenen Ländern, jedoch nicht weltweit, als illegal einzustufen sind. Beispiele hierzu sind insbesondere Hackerwerkzeuge, Publikationshilfen, Technologie-Wissen, u.ä. (Beispiel siehe unten)
  • Informationen mit wirtschaftlichem Charakter: Dabei handelt es sich hauptsächlich um Informationen aus dem Finanz-Sektor sowie Insider-Wissen, Gerüchte, etc.
  • Informationen mit gesellschaftlichem Charakter: Gesellschafts- und teilweise Regime- oder Politkritische Informationen. Diese Klasse ist sehr stark auch in der Klasse der politischen Informationen zu finden.

In der c’t Ausgabe 25/99, s. 22 ist unter dem Titel “Jagd auf DVD-Hacker – Pioneer und Hollywood-Studios gegen Websites” ein Artikel erschienen, der mich dann tatsächlich zum Nachdenken gebracht hat. Einige norwegische Programmierer haben bei dem Versuch, einen DVD-Player für das frei erhältliche Betriebssystem Linux zu schreiben, die ohnehin lächerliche DVD-Verschlüsselung geknackt und eine Software (DeCSS) erstellt, mit deren Hilfe jeder verschlüsselte DVD-Videos kopieren kann. DeCSS wird frei über das Internet verbreitet. Es gibt eine grosse Anzahl von Homepages, auf denen man DeCSS zum Download finden kann. Darüber hinaus hat ein ungarischer Programmierer herausgefunden, wie man beim Panasonic DVD-Player die Länderkennung ändern kann. Diese Information hat er dann auf seiner Homepage bei Tripod veröffentlich.

Da nahm der Koch den Löffel…
So weit so gut – oder so schlecht, wie Panasonic meinte. Da sie gegen den Programmierer rechtlich nicht vorgehen können (dieser sitzt in Ungarn und da gelten bzgl.. der Verbreitung dieser Art Informationen andere Regeln als in USA), hat sich Panasonic direkt an Tripod gewandt.

… und schlug den Hund damit tot
Tripod hat daraufhin pflichtbewusst die Homepage dieses Nutzers entfernt, komplett unzugänglich gemacht (wahrscheinlich sogar gelöscht). Ähnlich ging es Tripod und anderen Anbietern, als die Hollywood-Studios sich der Keule des “Millenium Copyright Act” bedienten und Website-Betreiber abmahnten, die DeCSS[3] auf ihren Servern zur Verfügung stellten. Aufgrund dieser Abmahnung stellen immer mehr Website-Betreiber das Angebot ein.

Nun handelt es sich beim Millenium Copyright Act keineswegs um eine Internationale Vereinbarung, vielmehr ist es ein Gesetz, dass die Firmen in USA dem Staat in harter Arbeit abgerungen haben. Inwiefern dieses Gesetz gut, schlecht, gerecht oder ungerecht ist, soll hier nicht behandelt werden. Vielmehr geht es darum, Gesetze eines Landes auf andere Länder zu übertragen.

Die Entwickler der Software DeCSS sind Norweger, gegen diese können die Hollywood-Studios kaum vorgehen, da das amerikanische Gesetz in Norwegen (noch?) nicht gilt. Sie können jedoch gegen die Verbreitung der Software und der Informationen darüber vorgehen, was sie mit grossem Erfolg umsetzen.

Da kamen viele Hunde…
Hier geht das Lied nicht wirklich klassisch weiter. Homepage-Anbieter wie Tripod, GeoCities u.ä. gibt es glücklicherweise ausserhalb der USA nur ganz wenige. Die meisten von ihnen hoffen darauf, baldmöglichst von einem der grossen amerikanischen Unternehmen dieser Art gekauft zu werden, damit sie schnell zu Reichtum kommen können. Dadurch unterstellen sich immer mehr Homepage-Betreiber den amerikanischen Gesetzen.

Bei den anderen grossen Anbietern wie in Deutschland Deutsche Telekom siehst es nicht allzu viel anders aus. Sobald ein amerikanisches Unternehmen, oder noch besser ein amerikanischer Interessenverband wie RIAA, MPAA etc. sich bei ihnen mit einem Schreiben durch ihren Anwalt melden, erfüllt auch eine Deutsche Telekom schnell und zuverlässig den Wunsch, die betreffenden Informationen von ihrem Server zu entfernen.

Information at Your Fingertips
Derzeit haben nach verschiedenen Schätzungen zwischen 100 und 150 Millionen Menschen auf der Welt Zugang zum Internet. Das bedeutet, dass 100-150 Millionen Menschen Informationen abrufen können, nicht dass sie Informationen anbieten (können).

Es ist auch nicht im Interesse der Industrie, Medien und der Politik, dass jeder auf der Welt zum Publizist wird (hierzu hat mein guter Bekannter Rob Raisch einen interessanten Artikel geschrieben: The Future of Fast Access, in dem er erklärt, warum die Industrie auch kein Interesse daran haben kann, jedem schnelle Uplink-Verbindungen zur Verfügung zu stellen).

Information at Your Fingertips bedeutet, dass jeder zu jedem Zeitpunkt angebotene Informationen konsumieren kann. Ich sage hier bewusst konsumieren, da es sich dabei stärker denn je um auf den Konsumenten zugeschnittene Dienste, Produkte und Angebote handelt, die als Informationen verpackt sind.

Es kann nicht im Interesse einer politischen Organisation, einer Firma und den Medien sein, dass jeder alle Informationen, die ihm zur Verfügung stehen, auf einfache Art und Weise publiziert. Es widerspricht nicht nur der Machtlehre als solche, sondern untergräbt damit auch die politische und wirtschaftlich Macht und wirkt zerstörerisch auf die etablierten Gesellschaftsstrukturen.

Da das Web jedoch grundsätzlich jedem die Möglichkeit bietet, Informationen zu publizieren, müssen hier andere Gesetze und Regelungen her, als bisher in den klassischen Medien der Fall war. Gesetzgebungen dauern jedoch relativ lange und aus diesem Grunde kann es nur im Interesse aller (amerikanischen) beteiligten Parteien sein, wenn immer mehr Unternehmen unter die amerikanische Gesetzgebung fallen. Erst hierdurch können Website-Betreiber erfolgreich abgemahnt, Software-Hersteller überzeugt, Hardware-Hersteller überredet werden, Publikations-Einschränkungen vorzunehmen.

Fazit
Wir dürfen und können es der Masse der Menschen nicht erlauben, ihre Meinungen und Informationen, die nicht durch den Filter der Medien, der Industrie und der Politik gegangen sind, zu verbreiten. Bei den Vor-Web-Medien war dies durch die natürliche Hürde des hohen Investment-Bedarfs für die Errichtung einer “Sende-Einrichtung” gar nicht möglich.

Im Web jedoch hat jeder die Möglichkeit, zumindest theoretisch, uneingeschränkt seine Meinung zu äussern, bzw. Informationen zu verbreiten. Aus diesem Grunde muss die amerikanische Industrie in Ihrem Bemühen unterstützt werden, “Sender” im Web unter die amerikanische Gesetzgebung zu führen. Das muss zu den Zielen gehören, die in der amerikanischen und der weltpolitischen Informationspolitik die höchste Priorität haben.

Epilogue?
Hier würde der Beitrag enden, wenn es nach dem Wunsch verschiedener Interessenverbände ginge. Der Beitrag wäre erfolgreich und spiegelte die Wünsche vieler Organisation wieder. Dieser Wunsch kann und darf jedoch niemals Wirklichkeit werden.

Informationsfreiheit muss zu den höchsten Geboten auf der Welt erhoben werden. Informationen müssen von jedem für jeden weitergebbar sein. Es reicht nicht, wenn 1 Milliarde Haushalte einen Internet-Zugang haben, wenn von dieser 1 Milliarde nur 50 Menschen, oder 500 oder 5000 die Informationen “machen”, für diese Milliarde Haushalte mundgerecht aufbereiten und damit auch nur das zur Verfügung stellen, was im Interesse einer kleinen Gruppe ist.

Informationsfreiheit darf nicht nur bedeuten, dass jeder Informationen abrufen kann. Es muss vielmehr und weitaus wichtiger bedeuten, dass jeder zu jedem Zeitpunkt, auf jedem Punkt der Erde Informationen veröffentlichen kann. Wenn wir uns mit dem Attribut “demokratisch” schmücken oder beschimpfen wollen (je nach politischer Einstellung), müssen wir die Grundsätze der Demokratie neben dem aktiven und passiven Wahlrecht um das Recht auf aktive und passive Informationsfreiheit erweitern.

Wir dürfen es jedoch nicht bei Gesetzen und Theorien belassen. Wir müssen auch praktisch darauf hin arbeiten, dass jeder die Möglichkeit bekommt, Informationen zu verbreiten. Gerade in Europa müssen wir stärker denn je darauf drängen, Plattformen zu schaffen, die es jedem erlauben, zu publizieren. Diese Plattformen dürfen nicht durch die Macht der Industrie, Politik, oder anderen Interessenverbänden in ihren Angeboten eingeschränkt werden.

Es muss zu der Grundversorgung, zum Grundrecht eines Menschen werden, Informationen nicht nur verbreiten zu dürfen sondern auch zu können.

Dabei müssen wir auch mit bitteren Informationen leben können. Erst dann können wir erwägen, uns in einer demokratischen Umgebung zu wähnen. Erst dann sind wir reif, Demokratie nicht nur als Wort zu schreiben sondern auch zu leben.
München, 12. Dezember 1999


[1] Unter Rauschen versteht die News-Nutzer Diskussionsirrelevante Beiträge. Diese setzen sich hauptsächlich aus Werbemails (sog. SPAM) und zusammenhangslosen Beiträgen zusammen.
[2] age/sex/location-Check: Auf diese Anfrage hin teilt normaler jeder Chatter mit, wie alt er/sie ist, welches Geschlecht und wo er/sie sich befindet (Hierzu gibt es seine sehr schöne Karikatur bei www.autsch.de). Üblicherweise handelt es sich bei dem Fragenden um jemanden, der eine Gesprächspartnerin sucht.
[3] DeCSS stellt eine Software dar, mit deren Hilfe man kopiergeschützte DVD’s auslesen kann, ohne eine Lizenz seitens der DVD-CCA zu haben.